Das Wort Ḫuluq (Aḫlāq) im Koran und seine deutschen Entsprechungen
„Die Menschen sind wie Gold und Silber. Die Guten in der Dschahiliyya (in der vorislamischen Zeit) sind die Guten im Islam - so sie verstehen.“[1]
Der Prophet Muhammad (sas)
Das Wort Aḫlāq ist die Pluralform von ḫulq/ḫuluq, welches der Wurzel Ḫ-L-Q entspringt. Aus dieser Wurzel abgeleitete Wörter kommen im Koran insgesamt 261 Mal vor.[2] Diese sind Folgende:
- 184 Mal als Verb (ḫalaqa): „erschaffen, schaffen, formen, bilden“,
- 2 Mal als Partizip Passiv (muḫallaqa): „geformt“,
- 52 Mal in der Substantivform (ḫalq): „Erschaffung, Schaffung, Schöpfung“,
- 12 Mal als Partizip Aktiv (ḫāliq) und 2 Mal als Substantiv (ḫallāq): „Schöpfer, Erschaffer“,
- 6 Mal als Substantiv (ḫalāq): „Anteil“,
- 1 Mal als Verbalsubstantiv (iḫtilāq): „Erfindung, Erdichtung“
- 2 Mal als Substantiv (ḫuluq): „Charakter, Brauch, Moral, Art, Sitte, Natur, Persönlichkeit, Erziehung“.
Daraus wird ersichtlich, welches Bedeutungsspektrum die Wortwurzel aufweist. Die Grundbedeutungen der Wurzel Ḫ-L-Q sind erschaffen, formen und bilden. Das Wort ḫuluq, welches wir näher betrachten wollen, kommt im Koran an zwei Stellen vor.
Chronologisch erscheint das Wort zuerst in der Sure 68, im Vers 4. In dem Abschnitt (Vers 2-7f.) geht es um die Angriffe der polytheistischen Mekkaner auf den Propheten Muhammad - Gott segne ihn und schenke ihm Frieden - und die göttliche Verteidigung des Propheten. In diesem Zusammenhang wird der Prophet von Gott in direkter Rede angesprochen: „Wahrlich, du hast einen großartigen Charakter.“ (innaka la-ʻalā ḫuluqin ʻaẓīm). Auffällig ist auch, dass in dem Abschnitt ab Vers 10 ein negativer Kontrast zu dem „großartigen Charakter“ dargestellt wird. Es ist der schlechte Charakter der Leugner (mukaḏḏibīn), die verleumden, üble Nachrede verbreiten, das Gute verhindern, das Gesetz übertreten, sündigen und ein grobes Benehmen an den Tag legen. Der Prophet wird aufgefordert, diesen Leugnern nicht zu folgen.
Die zweite Stelle, in der das Wort ḫuluq vorkommt, ist der Vers 26:137, eingebettet in dem Sinnabschnitt Vers 123-140. Die Rede ist von dem Volk ʻĀd, das die Gesandten Gottes verleugnet und vom Propheten Hūd - Gott schenke ihm Frieden - an die Gaben Gottes erinnert und ermahnt wird. Die Antwort seines Volkes lautet: Sie sagten: „Ob du ermahnst oder nicht ermahnst, ist uns gleich.“ (136) In dem darauffolgenden Vers kommt unser Wort vor: „Das ist nichts anderes als die Unart der Früheren.“ (in hāḏā illā ḫuluqu al-awwalīn) Erwähnenswert ist hier eine weitere und ebenso anerkannte Lesart dieser Stelle. Anstelle von ḫuluqu wird nämlich auch ḫalqu gelesen. Das ist eine wichtige Bedeutungsnuance. Ḫalq bedeutet „Erschaffung, Schöpfung“. Damit wird auch die semantische Nähe beider Wörter wieder deutlich.
Ḫuluq (im Plural Aḫlāq) ist also eine festsitzende Eigenschaft und nicht ein einmaliges Benehmen. Zudem wird erkennbar, dass es sowohl positiv, als auch negativ gebraucht wird. Al-Ǧurǧānī definiert daher in seinem Buch der Definitionen (kitāb at-taʻrīfāt) das Wort wie folgt: „Ḫuluq ist ein Ausdruck für die tiefverwurzelte Einstellung der Seele (hay’at an-nafs), aus der die Handlungen mit Einfachheit, ohne Nachdenken und Reflektion hervorgehen.“[3] Unter dem Wort Ḫuluq wird ebenso „Natur“ (ṭabʻ) verstanden.[4]
In Bezug auf die Menschen bedeutet Natur nach Duden: „3. a. geistige, seelische, körperliche oder biologische Eigentümlichkeit, Eigenart von [bestimmten] Menschen oder Tieren, die ihr spontanes Verhalten o. Ä. entscheidend prägt b. Mensch im Hinblick auf eine bestimmte, typische Eigenschaft, Eigenart“[5] Etymologisch kommt das Wort Natur aus dem Lateinischen. Das lateinische Wort natura bedeutet „Geburt; natürliche Beschaffenheit; Schöpfung“.[6] Bezeichnend ist die semantische Parallele: Sowohl das arabische, als auch das lateinische Wort weisen eine semantische Beziehung zwischen „Schöpfung“ und „Charakter“ auf. So sagen wir im Deutschen z. B. „Das liegt nicht in seiner Natur.“ und bringen damit zum Ausdruck, dass die Eigenart einer Person sein aktuelles Verhalten prägt. Auch dieser Aspekt wird in der obigen Definition von Ǧurǧānī erwähnt.
Ein weiteres Wort, das uns in diesem Zusammenhang interessiert, ist „Charakter“. In Bezug auf den Menschen weist der Duden folgende Bedeutungen auf: „1. individuelles Gepräge eines Menschen durch ererbte und erworbene Eigenschaften, wie es in seinem Wollen und Handeln zum Ausdruck kommt 2. Mensch mit bestimmten ausgeprägten Charakterzügen 3. a. einer Personengruppe oder einer Sache innewohnende oder zugeschriebene charakteristische Eigenart“[7] Etymologisch kommt das Wort aus dem griechischen charaktḗr, was „eingebranntes, eingeprägtes (Schrift)zeichen“ bedeutet.[8] Auch das Wort Charakter entspricht semantisch weitestgehend dem koranischen ḫuluq (aḫlāq). Charakter scheint jedoch etwas spezifischer zu sein als das Wort Natur und weist einen essentiellen Aspekt auf. Charakter bezeichnet nämlich „ererbte und erworbene Eigenschaften“. Charakter hat also eine statische und eine dynamische Dimension. In der Informatik spricht man von Hardware (harter Kern) und Software (weicher Kern). Hardware steht in unserem Gleichnis für die statische bzw. unveränderbare und Software für die dynamische bzw. veränderbare Dimension des Charakters. Der Aspekt der Veränderbarkeit ist eine elementare Prämisse der koranischen bzw. islamischen Erziehungsvorstellung. Der Charakter ist zwar zu einem gewissen Teil gottgegeben, kann aber erzogen, gebildet und verbessert werden. Gott, der Schöpfer (al-Ḫāliq), stattet Menschen mit Eigenschaften aus, die allen zwar gemein, jedoch unterschiedlicher Qualität sind. Das ist die gottgegebene Individualität eines jeden einzelnen Menschen. Hinzu kommt, was der einzelne Mensch aus seinem Charakter macht, natürlich unter allen anderen Einflussfaktoren wie Erziehung, Bildung, Umfeld, Umwelt, Erfahrung usw.
Das Wort erwerben ist in diesem Kontext von enormer Bedeutung, sodass eine weitere Verknüpfung in der koranischen Begriffswelt hergestellt werden soll. Der Koran benutzt für Handlungen, die der Mensch zu verantworten hat, das Wort kasb, das gewöhnlich mit erwerben übersetzt wird. Es sei nebenbei angemerkt, dass dieses Wort - in Bezug auf die Willensfrage verwertet - für die systematische Theologie zu einem zentralen Begriff wurde. In der Sure 2, Vers 286 wird das Wort wie folgt verwendet: „Gott bürdet keiner Seele auf, was über ihr Vermögen hinausgeht. Für oder gegen sie spricht nur, was sie erworben hat (kasabat).“ Darauf folgt ein Bittgebet der Gläubigen: „Unser Herr, belange uns nicht, wenn wir vergessen oder uns vergehen.“ Es wird uns in der Hadithliteratur mitgeteilt, dass die Gläubigen sich aufgrund der Gedanken, die in ihren Sinn gekommen sind, ernsthafte Sorgen gemacht haben. In diesem Vers teilt Gott mit, dass der Mensch nur für das Verantwortung trägt, was er erwirbt. Wir können zuweilen unsere Gedankengänge, Vorstellungen und Phantasie nicht kontrollieren. Unter dem Einfluss äußerer Faktoren werden Elemente und Einstellungen in unserer Seele aktiviert, die negativer Natur sein können. Diese sind z. B. Neid, Hass, Argwohn. Die Neigung zu solchen Emotionen an sich, ist unserer Einsicht nach nicht verwerflich, erst ihre „wissentliche“ und „bewusste“ Auslebung ist zu verantworten.
An anderer Stelle werden wir im Koran über die Bipolarität der menschlichen Seele aufgeklärt: „Bei der Seele (nafs) und bei dem, der sie formte und ihr eingab (alhama) ihre Schlechtigkeit (fuǧūr) und Rechtschaffenheit (taqwā) – gerettet, wer sie läutert und verloren, wer sie verdirbt!“ (91:7-10) Fuǧūr bedeutet die Deformierung der gottgegebenen Form und taqwā bezeichnet insbesondere an dieser Stelle die Achtsamkeit und Bedachtsamkeit bzw. das Bewusstsein, sich vor einer Deformierung und Degenerierung der gottgegebenen „Kultur“ - der positivbestimmten Natur – zu schützen und sich vor ihrer Deformierung in Acht zu nehmen. Man bedenke, dass diese keine beliebigen Deutungen, sondern wesentliche Bedeutungen dieser Wörter sind. Dafür genügt ein Blick in die Fachliteratur. Das überlassen wir jedoch, da es an dieser Stelle zu weit führen würde, dem geschulten Leser oder einem weiteren Beitrag. Es ist auch von großer Bedeutung zu erwähnen, dass die positive Dimension in der menschlichen Natur primär ist. Diese Sicht kann aus einem anderen Vers belegt werden: „Wahrlich, wir erschufen den Menschen in schönster Form, dann erniedrigten wir ihn in die tiefsten Tiefe, ausgenommen diejenigen, die glauben und rechtschaffen handeln - ihnen gehört ein nie endender Lohn.“ (95:4-6)
Es ist deutlich geworden, dass der Mensch eine grundlegend positive Natur hat, aber auch mit der Fähigkeit ausgestattet wurde, diese zu zerstören. Er kann seinen Charakter, auch wenn im begrenzten Umfang, erziehen und weiterbilden. Der Gesandte Gottes sprach hierzu folgende Worte: „Ich bin nur entsandt, um die vorzüglichen Charaktereigenschaften (makārim al-aḫlāq) zu vervollkommnen.“[9] Der Prophet, den seine ehrwürdige Frau Aischa mit den Worten „sein Charakter war der Koran“ (ḫuluquhu l-qur’ān) beschrieb, ist uns bei der Charaktererziehung ein „schönes Vorbild“ und ein vollkommener Lehrer.
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Zu guter Letzt seien die sechs wesentlichen Aspekte, die wir für ḫuluq (Charakter) herausgearbeitet haben, angeführt:
- Angeboren und erworben
- Statisch und dynamisch
- Konstitutiv bzw. dispositiv
- Positiv und negativ
- Individualität
- Erziehbarkeit
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Aus diesen Ausführungen und Erläuterungen können Ideen für das Verständnis der islamischen Erziehung und Übersetzungsmöglichkeiten abgeleitet werden. Das koranische Wort ḫul(u)q (pl. aḫlāq), auf das wir näher eingegangen sind, wird in den Hadithen und in der islamischen Literatur zahlreich und in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet. Die Wörter Natur und Charakter, die wir als passende Entsprechungen ansehen, werden ebenso vielfältig benutzt. Das legt uns nahe, bei Übersetzungen - für die passendste Wiedergabe - den jeweiligen Kontext zu berücksichtigen und auch weitere Synonyma in Betracht zu ziehen.
Hier darf die Empfehlung ausgesprochen werden, die Methode zu befolgen, koranische Begriffe zunächst einmal werkimmanent (tafsīr al-qur’ān bil-qur’ān) zu verstehen, etymologische und lexikalische Informationen heranzuziehen, die Hadithe und das Verständnis der Prophetengefährten zu beachten, die Verwendung in der klassischen Literatur zu beleuchten und entsprechende deutschsprachige Begriffe ebenso in ihrer Geschichtlichkeit und Vielfältigkeit anhand autoritativer Literatur sowie Lexika zu untersuchen. Diese Herangehensweise wird m. E. unschätzbare sprachliche Möglichkeiten zu Tage fördern, die uns die Fähigkeit verleihen können, den Großteil der arabischen Begriffe mit deutschen Entsprechungen adäquat wiederzugeben.
[1] Buḫārī: Manāqib: 1.
[2] Siehe http://corpus.quran.com/qurandictionary.jsp?q=xlq.
[3] Ǧurǧāni, Muḥammad Šarīf: kitāb at-taʻrīfāt, S. 106. (Beirut: Maktabat Lubnān, 1985.)
[4] Ǧabal, Muḥammad Ḥasan: al-muʻǧam al-ištiqāqī, S. 602. (Kairo: Maktabat al-Ādāb, 2010.)
[5] www.duden.de/node/643967/revisions/1299076/view
[6] www.duden.de/node/643967/revisions/1299076/view
[7] www.duden.de/node/703988/revisions/1334432/view
[8] www.duden.de/node/703988/revisions/1334432/view
[9] Mālik: Muwaṭṭa, Nr. 2633.
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